Die Essenz des Essens: "Lebens-Mittel" sagt Diäten und Funcional Food den Kampf an

Der Journalist Michael Pollan hat sich als der führende Ernährungsberater der USA profiliert. Mit seinem Buch „Lebens-Mittel“ bringt er nun auch dem Rest der Welt den Reiz des einfachen Essens näher.

Die Essenz des Essens: "Lebens-Mittel" sagt Diäten und Funcional Food den Kampf an

Den Gemüsegarten, den Michelle Obama vergangenen März im Garten des Weißen Hauses anlegen ließ, kann Michael Pollan als persön­lichen Erfolg verbuchen. Im Oktober 2008, kurz vor Barack Obamas Kür zum Präsidenten, hatte der Autor im „New York Times Magazine“ einen solchen Garten angeregt. Nach acht Jahren Bush-Regierung, die von zögerlicher Klimapolitik und der Dominanz von Öl- und Agrarlobbys geprägt war, klang der Vorschlag nach einer großen Vision. Pollan, im Hauptberuf Journalismusprofessor an der Universität Berkeley, profiliert sich zunehmend als Ernährungs­berater der „Fast Food Nation“. Mit dem Buch „Lebens-Mittel“, das seit kurzem in deutscher Übersetzung vorliegt, dringt sein Ruf nun über die Vereinigten Staaten hinaus: Die Auswirkungen von gleich­geschalteter Landwirtschaft, mangelnder Esskultur und übertriebenem Gesundheitsbewusstsein, die Pollan anprangert, sind weltweit zu spüren, auch wenn sie in den USA extremer sichtbar werden.

"Essen Sie Lebensmittel, und nicht zu viel"
Pollan arbeitet nie bloß mit Gesundheitsargumenten, wenn es um seine Vorstellung von richtigem Essen geht. Dennoch ist „Lebens-Mittel“ als Ernährungsratgeber gedacht: In seinem vor­angegangenen Buch „The Omnivore’s Dilemma“ (bislang nicht auf Deutsch erhältlich) rechnete Pollan mit der industriellen Nahrungsproduktion ab, dekonstruierte aber auch die scheinbar heile Welt der Bio-Industrie und hinterfragte Aussteiger, die zum Prinzip der Jäger und Sammler zurückkehren. Viele Leser, schreibt Pollan, hätten ihn daraufhin gefragt, was denn nun mit gutem Gewissen essbar sei. In „Lebens-Mittel“ antwortet er im ersten Satz: „Essen Sie Lebensmittel, nicht zu viel und vorwiegend Pflanzen.“ Der Ratschlag ist eine Kampfansage, so simpel er auch klingt. Zum einen attackiert Pollan die Ratgeber-Industrie, die Fragen der gesunden Ernährung zur Spezialistensache erklärt hat. Ernährungswissenschaft, die Essen auf die Aufnahme von diversen Nährstoffen reduziert, ist für Pollan der willige Komplize eines Trends, den er „Nutritionismus“ nennt. Die Diät-Gurus, die einmal die Reduktion von Fett, dann wieder jene von Kohlehydraten als gesund propagieren, dienen seiner Ansicht nach nur dem Absatz neuer Industrie­produkte.

Essen wie zu Omas Zeiten
„Wenn Ihnen Ihre Gesundheit am Herzen liegt, sollten Sie von Produkten, die Gesundheit versprechen, am besten die Finger lassen“, ätzt Pollan daher in Richtung der Functional-Food-Industrie, die mit Omega-3-Fettsäuren, zugesetzten Vitaminen und sonstigen Stoffen Wunder verspricht. „Eine solche Behauptung auf einem Lebensmittel lässt ziemlich stark vermuten, dass es sich nicht wirklich um ein Lebensmittel handelt, und das wollen Sie schließlich essen.“ „Lebensmittel“ sind für Pollan Dinge, die auch schon unsere Urgroßmütter kannten: Produkte, die aus natürlich hergestellten Rohstoffen zubereitet wurden und deren Herstellungsprozess sich leicht durchschauen lässt. Frisches Obst und Gemüse also, dazu Brot, Nudeln, ruhig auch etwas Speck – die Diät, die Pollan empfiehlt, ist denkbar unspektakulär.

Die Feinde der gesunden Ernährung
Esskultur und Tradition, so sein Argument, sorgen meist von selbst für ein aus­gewogenes Verhältnis von Nährstoffen. Viele­ Substanzen, die die Wissenschaft als gesundheitsfördernd erkennt, sind zudem nicht von den komplexen Verbindungen zu trennen, in denen sie in Lebensmitteln vorkommen. So gilt Betacarotin, das u. a. in Karotten und Kürbissen zu finden ist, als antioxidativ und krebshemmend – isoliert in einer Tablette, kann es aber in die ent­gegengesetzte Richtung wirken. Dass Ernährung nach Oma-Art heutzutage schwierig sein kann, wurde Öster­rei­chern zuletzt durch den Skandal um „Analogkäse“ bewusst: Käseähnlicher Pizza­belag, hergestellt aus billigem Palmöl, ist kaum vom „echten“ Lebensmittel zu unterscheiden. Wenn Diätfanatiker das simple Essen auf der einen Seite torpedieren, untergräbt der Zwang zur Billigproduktion gute Ernährung auf der anderen.

Keine Förderung für leere Kalorien
In seinem offenen Brief an den US-Präsidenten verlangte Pollan daher eine „staatliche Definition des Begriffs Lebensmittel“ – auch, um zu verhindern, dass Förderungen in den Konsum von Junk Food fließen. Nahrungsmittel müssten einen bestimmten Anteil von Vitaminen und Spurenelementen per Kalorie enthalten, um als „Lebensmittel“ zu gelten, erklärte er. Der Vorschlag schickt den Präsidenten auf Crashkurs mit der Lebensmittelindustrie, die auf der Basis von hoch subventioniertem Mais und Sojabohnen billige, ernährungsphysiologisch „leere“ Kalorien in Form von Cola, Hamburger, Pommes und Co produziert. Dennoch, so Pollan, müsse Ernährung auf der politischen Agenda ganz oben stehen, um die Pro­bleme­ der USA im Gesundheits­system und in der Außenpolitik in den Griff zu bekommen. Die Verfettung der Gesellschaft belastet das Gesundheitsbudget immer mehr, und die Lebensmittelindustrie ist nach dem Individualverkehr der größte Ölfresser der Nation.

Auf zum Bauernmarkt!
Ob Michelle Obamas Gemüsegarten ein Zeichen ist, dass Pollan mit seinen Empfehlungen durchkommt, bleibt abzuwarten. Für die ­Leser des bekennenden Genießers kann „Lebens-Mittel“ jedenfalls ein Wendepunkt sein: Wer sich einmal Pollans Motto zu Herzen genommen hat, verbringt mehr Zeit damit, sich auf Bauernmärkten nach leckeren regionalen Spezialitäten umzuschauen. Oder er beginnt, im eigenen Garten Ge­müse anzubauen.

Von Michael Huber

Buch-Tipp:  Michael Pollans Buch „Lebens-Mittel“ (Goldmann, € 8,20) ist Ernährungsratgeber und zugleich eine Kampfansage an Diät-Gurus.